Warum die Welt mehr Yin braucht, was Yin-Yoga ausmacht, warum es wahrscheinlich auch Dir gut tut und sogar besonders für Kerle geeignet ist, erfährst Du in diesem Beitrag.
Yin-Yoga fördert einen gesunden Bewegungsspielraum sowie inneren Halt, Offenheit und Sanftheit: wir kultivieren einen aufrichtigen und freundlichen Zugang zu unseren Körperempfindungen, Gefühlen und Denkmustern, werden uns deren Qualität und Auswirkung auf unser Wesen und Verhalten bewusst. Wir üben achtsam und gleichmütig im Moment zu verweilen, die eigenen Grenzen auszuloten, zu akzeptieren und uns hinzugeben, lernen gelassen und dankbar anzunehmen was ist (und nicht verändert werden kann ;-).
Nacht und Tag, Winter und Sommer, Kälte und Wärme, Schatten und Licht, Leere und Fülle, Materie und Energie, passiv und aktiv, ruhig und bewegt, sein und tun, langsam und schnell, innen und außen, leise und laut, beobachten und entscheiden, Vision und Fokus, Intuition und Logik, Körper und Psyche, Frau und Mann, Tamas und Rajas – Yin und Yang: gleichwertig, per se weder gut noch schlecht und in einer dynamischen Wechselbeziehung stehend. Yin und Yang sind von einander abhängig, begrenzen und erschaffen sich gegenseitig bzw. verwandeln sich ineinander: Yin enthält Yang als Potential und im Yang ist Yin bereits angelegt. Yin und Yang sind die beiden gegensätzlichen UND sich ergänzenden Qualitäten im Fließgleichgewicht des Lebens.
Das ganzheitliche Konzept von Yin und Yang ist nicht nur die Essenz der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), sondern zentraler Bestandteil chinesischer Philosophie, Wissenschaft und Kultur. Erwähnt wurde es erstmals im Yijing, dem Buch der Wandlungen aus der Zhou-Dynastie (16. Jh. bis 221 v. Chr.). Tsou Yen (305 - 240 v. Chr.) wird es zugeschrieben, das Konzept von Yin und Yang mit der Lehre von den fünf Wandlungsphasen vereinigt zuhaben. Diese ordnet alle Erscheinungen und Dinge entsprechend ihrer energetischen Qualität den fünf Elementen (Metall, Wasser, Holz, Feuer und Erde) zu und erklärt alle Vorgänge und Veränderungen im Universum, der Natur sowie im Menschen durch die permanenten Wechselwirkungen dieser Wandlungsphasen (dazu später mehr). Die auf der genauen Beobachtung von Naturerscheinungen beruhende TCM legt ihr Hauptaugenmerk auf Prävention, also dem Vorbeugen und Vermeiden von Krankheiten durch richtige Ernährung, Bewegungstherapie mit Atem- und Konzentrationsübungen, Heilkräuter, Massagen und Akupunktur, wobei eine therapeutische Intervention bei der Behandlung des Geistes beginnt, um aus dem Gleichgewicht geratenes Yin und Yang in Harmonie zubringen. (*1).
Ein systemischer, ganzheitlicher Ansatz, der übrigens keine chinesische Eigenheit ist, sondern auch die griechische Antike und alle großen Weisheitslehren durchzieht, ist in unserer schnelllebigen, polarisierenden und zerstörerischen Yang-lastigen Zeit aktueller denn je. Als die Welt im 15. Jahrhundert von den Naturwissenschaften entzaubert wurde, setzte sich ein bis heute dominierendes (wenn auch längst von der Quantenphysik erschüttertes) mechanistisches Weltbild durch. Damit einher gingen nicht nur technologische Errungenschaften, sondern auch eine fatale Verkürzung des Mensch-Seins unter Überbewertung männlicher Prinzipien, eine Entfremdung von Mensch und Natur und zunehmende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen (*2). In diesem ungesunden Ungleichgewicht gilt es, die verloren gegangene Balance von Yin und Yang wieder zu finden, von der unsere körperliche und psychische Gesundheit, mehr noch: unser Überleben, abhängt.
Selbst im (westlichen) Yoga drängte eine muskelkräftigende Yang-Yoga Praxis die im ganzheitlichen Yoga immer schon enthaltenen Yin-Aspekte in den Hintergrund. Während im Yang orientierten Yoga die muskelaktivierende Bewegung mit genauer Ausrichtung zum Schutz der Gelenke im Vordergrund steht, geht es beim Yin-Yoga mehr ums Innehalten und sanfte (nicht maximale) Dehnen des Gewebes bei entspannter Muskulatur, wodurch auch das Fasziengewebe, die Sehnen, Bänder, Schleimbeutel, Knorpel, Knochen und Gelenke stimuliert werden.
Es geht nicht um entweder Yang oder Yin, sondern um eine im jeweils spezifischen Kontext gerade angebrachte Praxis: Was brauchst Du jetzt gerade? Nach einem ohnedies völlig entspannten Tag einer tendenziell ruhigen oder phlegmatischen Person wäre eine dynamische Yoga-Einheit wohl die bessere Wahl.
Yin-Yoga ist ein wunderbarer Ausgleich zu einem herausfordernden Alltag bzw. stressigen Job oder auch einseitigen sportlichen Aktivitäten. Yin-Yoga eignet sich insbesondere auch für Männer, die sich nach Entschleunigung sehnen, sich selbst besser kennenlernen und einfach (wieder) spüren wollen, ohne dabei etwas leisten bzw. erreichen zu müssen.
Durch das möglichst passive lange Halten der Yin-Yoga-Stellungen wird nicht genutztes bzw. überbeanspruchtes, verhärtetes oder verfilztes, verklebtes Gewebe erreicht, das unseren gesamten Körper wie ein Netzwerk durchzieht: die Faszien. Diese dienen der Formgebung, Bewegung, Versorgung (Stoffwechsel) und Kommunikation (Reize und Informationen). Wenngleich die Faszienforschung (Robert Schleip et al.) noch in den Kinderschuhen steckt, wird die Verbindung der Faszien zu den feinstofflichen Energieleitbahnen, den Meridianen der TCM bzw. Nadi im Yoga, in denen unsere Vitalkraft Qi bzw. Prana fließt, immer klarer. Geistig-seelische und körperliche Gesundheit basiert in der TCM auf einem freien Energiefluss; Blockaden spüren wir bei Krankheit, als deren Hauptfaktoren neben äußeren Faktoren insbesondere unseren Emotionen (Wut, Freude, Sorge, Trauer und Angst) gesehen werden.
10 + 2 Hauptmeridiane bilden mit dem Konzeptions- und Lenkergefäß das Meridiansystem, auf dem sich die klassischen 360 Akupunkturpunkte befinden. Die Hauptmeridiane sind je einem Organsystem zugeordnet und in 5 + 1 Meridianpaaren mit jeweils einem Yin-und einem Yang-Meridian und entsprechendem Yin- und Yang-Organ zu einem Funktionskreis zusammengefasst, dem auch Gewebeschicht, Sinnesorgan sowie psychische Faktoren zugeordnet werden und darüber hinaus äußere Faktoren, die eine Krankheit bewirken bzw. Beschwerden verstärken können. Durch die Verbindung der Funktionskreise mit den fünf Wandlungsphasen werden zyklische Naturphänomene (Jahres- und Tageszeit, Himmelsrichtung und klimatische Faktoren) in Beziehung zum Menschen und seinen Lebensphasen gesetzt.
Yin-Yoga ist weniger Instagram & Co. tauglich als spektakuläre Yang-Yogahaltungen wie Skorpion, Leuchtkäfer oder fliegende Taube. Noch liegt der Fokus mancher Yoginis und Yogis mehr darauf, einer äußeren Form, einem perfekten Bild zu entsprechen, als sich unter Berücksichtigung der individuellen Anatomie und Situation wohl zu fühlen – und den „Körper mit Würde und Selbstfürsorge ganz (zu) bewohnen“ (Sarah Powers). Generell geht es beim Yoga darum, bei sich selbst anzukommen, ganz ins Sein einzutauchen und eins zu werden, die Verbundenheit mit allem Leben zu spüren. So kann prinzipiell jeder Yoga-Stil mit einer meditativen Haltung und Yin-Qualität ausgeübt werden und auch in einer dynamischen Klasse etwa zu Beginn oder gegen Ende eine Yin-Haltung gesetzt werden, um eine bewusstere Praxis bzw. vertiefte Wahrnehmung zu erzeugen. Manche Lehrer üben in Yin-Klassen auch Yang-Haltungen.
Die längere Verweildauer in den vorwiegend liegenden, sitzenden oder knienden Yin-Haltungen von mindestens 3 Minuten (Erfahrene halten fünf bis 10, sogar bis zu 20 Minuten) sowie bewusstes Nachspüren ermöglicht eine tiefere Selbstwahrnehmung und Klarheit: Wir erfahren nicht nur was im Körper bzw. energetisch passiert bzw. auch nicht passiert, sondern treten auch mit unseren Bedürfnissen, Gedanken, Gefühlen und Handlungsimpulsen sowie nicht entwickelten Potentialen in Kontakt. Es erfordert Mut und kann durchaus herausfordernd sein, auftauchende schmerzliche oder konflikthafte Erinnerungen oder verdrängte Gefühle nicht zu beurteilen, zu unterdrücken oder auszuagieren, sondern diese unbeeindruckt zu beobachten und auszuhalten. Yin-Yoga ist demnach nichts für Anfänger*innen und setzt eine gewisse Yoga- bzw. Achtsamkeitspraxis und psychische Gesundheit voraus.
Über auf das Meridiansystem einwirkenden Yin-Yoga können der Fluss unserer Lebensenergie angeregt, die Selbstregulation unterstützt und Selbstheilungskräfte aktiviert werden. Freilich ersetzt Yin-Yoga weder Arzt noch Psychotherapeutin. Den eigenen Körper bewusst und freundlich wahrzunehmen (Interozeption gilt als sechster Sinn), ist jedenfalls ein lohnender Ansatz zu mehr Selbsterkenntnis, zumal unsere Lebenserfahrungen nicht nur als Erinnerungen, sondern auch im Körper gespeichert sind. Da zudem die Atmung vertieft und der Parasympathikus aktiviert wird, beruhigt und regeneriert sich das Nervensystem und Du fühlst Dich im Zuge einer Yin-Yoga-Stunde tiefenentspannt – eine wohlige innere Ruhe und Leichtigkeit können sich einstellen.
Wenn Du jetzt neugierig geworden bist, fühle Dich herzlich willkommen in meinen Yin-Yoga-Kursen mit meditativem Fokus. Wir praktizieren wenige ausgewählte Haltungen mit zahlreichen Variationsmöglichkeiten für Deine Bedürfnisse und ausreichend Zeit zur bewussten Wahrnehmung und Entspannung. Wir üben in warmer Kleidung, um nicht auszukühlen und mit vielen Hilfsmitteln, um es uns so bequem wie möglich einzurichten. Meine Stunden sind nach dem Vinyasa Krama Prinzip aufgebaut, dem Jahreszyklus der Natur und der Tageszeit angepasst und bieten entsprechend dem Thema mehr Raum für Stille oder praktische Impulse aus der Yogaphilosophie.
Zur Betonung einer anderen Praxis haben die Haltungen übrigens nicht die gleichen Namen wie im klassischen Yoga – Raupe und Libelle, Grashüpfer, Frosch, Reh, Seelöwe, rollender Panda, Engels-Flügel und Drache machen jedenfalls mir Lust auf mehr (wenngleich das im Yin weniger bedeutet ;-)
Gewürdigt seien die Begründer*innen des Yin-Yoga: Paulie Zink, Hiroshi Motoyama und Paul Grilley sowie Sarah Powers und deren Schüler wie Bernie Clark, Joe Phee, Josh Summers, Markus Henning Gieß und Rene Hug, Stefanie Arend und Tanja Seehofer – mit ihren jeweils unterschiedlichen Auffassungen, was Yin-Yoga ausmacht. Abschließend gilt ein herzliches Dankeschön meiner Yin-Yoga-Lehrerin Juliane Krüger für die großzügige Weitergabe ihres angesammelten Wissens (nein, das ist leider auch unter Yogalehrern keine Selbstverständlichkeit).
*1 Margarete Meta Schaefer (2015): Die Traditionelle Chinesische Medizin an der Schnittstelle von Esoterik und Religion/Philosophie, Wien.
*2 Mehr zur Überbetonung der Ratio und dem Mythos Machbarkeit versus einer systemischen Weltanschauung und einem integralen Menschenbild findest Du in meinen früheren Buchpublikationen, wie z.B. „Zeit für Nachhaltigkeit“, „Identität und Nachhaltigkeit in einer globalisierten Welt“ und „Die Zukunft der Landwirtschaft ist biologisch“.
*3 Bartuska,C. und P. (2015): Einführung in die Körperpsychotherapie.
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Veröffentlichung Juni 2019
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Foto Yin-Yang Symbol: Pixabay